Lees schöne Lippen waren ein Sinnbild ihrer Macht. Groß, ungezähmt und mundig, liebte die Amazonas-Amerikanerin es, ihre Meinung zu sagen und war bekannt für ihr lautes, raues Lachen. Von ihren Liebhabern verewigt, wurden ihre Lippen auch zu einem Symbol der Sinnlichkeit. In seinem Gemälde „The Lovers“ hat Man Ray sie zum Beispiel in die Luft gesprengt und sie den Himmel erobern lassen. Doch als Lee älter wurde, widmete sie sich zunehmend ihrem Geschmackssinn. Sie hatte keine Lust, eine professionelle Köchin zu werden, aber ihre aufwendigen Abendessen mit surrealistischen Überraschungen wie blauen Spaghetti, mit Relish gefüllten Litschis und mit Blattgold überzogenem Hähnchen waren legendär. Um Lees Biografin Carolyn Burke zu zitieren: Die Alchemie der Küche beflügelte ihre Fantasie.

Sie löste auch ihre köstliche Verschlagenheit aus. Nachdem ein hochnäsiger britischer Food-Kritiker die amerikanische Besessenheit von Marshmallows und Coca-Cola auf den Kopf gestellt hatte, bereitete Lee ihm eine „Bomben-Überraschung“ zum Nachtisch, die er verschlang. Ich stelle mir gerne Lees triumphierenden Gesichtsausdruck vor, als sie ihm hinterher sagte, es sei Marshmallow-Cola-Eis! Lee hat das Kochen einmal als „reine Therapie“ bezeichnet. Als ihre Mutter starb, kanalisierte sie ihre Trauer in die Herstellung einer riesigen Menge Paprikamarmelade. Und dann waren da noch Lees Traumata; von ihrer Kindheitsvergewaltigung bis zu den Schrecken, die sie während des Krieges erlebte. Zu unaussprechlich, um über ihre schönen Lippen zu kommen, vielleicht fanden diese Tragödien ihr Ventil in Lees würzigen Eintöpfen und duftenden Suppen. Das denke ich gerne.