Wie ich eine glückliche Hand-Esserin wurde

by Marlies Dekkers

Schon immer habe ich gern mit den Händen gegessen, doch manchmal fühlte ich mich dabei wie ein kulinarischer Barbar. Bis ich Indien besuchte…

Aufgewachsen bin ich in einem Arbeiterhaushalt im Süden der Niederlande, wo es keine Schande war, mit den Händen zu essen. Man wurde sogar dazu angeregt! „Spare in der Zeit, so hast du in der Not“, pflegte meine Großmutter bejahend zu sagen, wenn sie mir zusah, wie ich meinen Teller sauber wischte.

Ich hatte da meine ganz eigene Theorie: Es gibt einen Grund, weshalb es heißt, eine Speise sei so gut, dass man sich alle zehn Finger abschlecken könnte. Ach, alles schmeckte einfach viel besser, wenn ich es mit den Händen aß.

Also machte ich weiter. Irgendwann verließ ich meine kleine Heimatstadt, besuchte die Kunstakademie und gründete meine eigene Firma. Auf einmal standen Geschäftsessen in schicken Restaurants auf dem Programm – aber sogar dort aß ich mit den Händen. Ja schon, die Menschen starrten mich entgeistert an, doch das Essen war köstlich und ich fand, man könne seine Wertschätzung gar nicht besser zum Ausdruck bringen. So versuchte ich es auch meiner Tochter Zilver zu erklären, die mich beim Essen immer fassungslos anschaute. „Wertschätzung zeigen? Du zeigst einzig und allein, dass du ein Barbar bist!“ lautete ihr Kommentar, während sie ihren Salat pedantisch mit einer Gabel aufspießte.

Ich wusste, dass es in Indien gängige Praxis ist, mit einem Stück Brot Speisen aufzunehmen, Currys und Soßen aufzusaugen und es dann in den Mund zu stecken. In indischen Restaurants hatte ich Menschen gesehen, die mit großer Geschicklichkeit so aßen. Als ich endlich in Indien war, stellte ich fest, dass manche Leute wirklich alles mit den Händen essen: Reis, Fleisch und sogar Currys! Besonders im Süden des Landes. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unglaublich befreiend es war, dass ich meine Hand jetzt ganz ungeniert in ein Fischcurry mit Reis tauchen durfte, ohne von allen Seiten angestarrt zu werden.

Dazu sei angemerkt: Wie hier mit den Händen gegessen wurde, war alles andere als barbarisch. Man langte nicht einfach hin und schnappte sich die Speisen, nein, das Essen wurde ganz vorsichtig berührt und behutsam zu mundgerechten Kugeln geformt. Ein Freund erklärte mir den Ursprung: indische Mütter füttern ihre Kinder liebevoll mit der Hand. Es gibt allerdings sehr wohl einige Regeln zu beachten! Man sollte nur die Fingerspitzen benutzen und es gilt als unmanierlich, wenn die Außenseite der Finger und die eigentliche Handfläche beim Essen nicht sauber bleiben. Und selbstverständlich ist das Händewaschen vor und nach dem Essen ein Muss.

Ich hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen. Endlich war ich unter Menschen, die, genau wie ich, der Ansicht waren, Essen sei eine äußerst sinnliche Sache, die mit möglichst vielen Sinnen genossen werden sollte: schmecken, riechen, sehen, fühlen. Jetzt muss ich nur noch ein Land finden, in dem das Abschlecken des Tellers zum guten Ton gehört.